25. Mai 2013: Sachbücher
Wie buchstabiert sich jemand, der Kaiser heißt? Kaiser, Kayser, Keiser, Keyser? Ich bin mir nicht sicher, aber der Herr K. meiner Jugend hieß wohl Kayser.
Er war ein ehemaliger Kollege meines Großvaters mütterlicherseits. Der Großvater, ein Bahnbeamter, starb Ende des Zweiten Weltkriegs als Opfer einer Bombe, die ihm das Bein ausriss, ich habe das schon einmal geschildert. Unsere Großmutter lebte bei uns, sie hat meine Eltern erpresst, als diese jungverheiratet waren und von Wuppertal fortziehen wollten: „Wenn Ihr mich hier alleine lasst, bringe ich mich um!“. Das war heftig, und so war unsere Großmutter immer dabei, obwohl wir mehrmals umgezogen sind. Meine Mutter meinte später einmal, sie hätten nicht auf diese Erpressung eingehen sollen, aber das wisse man eben nicht, wenn man jung ist. Es war schon eine Belastung für die Familie, denn meine Großmutter war zwar eine liebe, aber durchaus auch schon mal nervige Frau. Meine Großmutter ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn hätte sie nicht bei uns gelebt, hätte ich Herrn Kayser nicht so regelmäßig gesehen.
Herr Kayser war Junggeselle, damals galt dies noch als „merkwürdig“, was wir uns im Zeitalter der Singles heute nur schwer vorstellen können. Ich meine auch, er sei etwas jünger gewesen als meine Großmutter. Hatte er eine Schwäche für sie? Ich weiß es nicht.
Herr Kayser hatte einen Buckelansatz. Sein Gesicht war rot, und am besten würde ich jetzt sagen, er starb ja auch an einem Herzinfarkt, aber auch das weiß ich nicht mehr. Ebenso ist im Nebel der Vergangenheit geblieben, ob er oder meine Großmutter eher starb. Sein Haar war nicht mehr ganz dicht, dunkel eher, mit grauen Strähnen. Er schlürfte die Suppe ein wenig („das kommt vom Alleineleben!“, Zitat Mutter), aber war unserer Familie irgendwie verbunden. Er hatte eine große Nase aus der einige Haare herauswuchsen und er galt als ein wenig wunderlich – kein Wunder, so als schlürfender Single mit Nasenhaaren.
Ich freute mich, wenn Herr Kayser zu Besuch kam. Kinder sind ja mitunter ein wenig gefühllos, und so freute ich mich weniger über die Person Herr Kayser, sondern über seine Mitbringsel für uns Kinder. Ich weiß nicht mehr, was er meinen Geschwistern mitgebracht hat, aber ich bekam immer ein Buch. Das waren aber nicht irgendwelche Bücher, keine Märchenbücher, keine Romane, keine Weltliteratur. Es waren Sachbücher, großformatige Bücher mit Bildern und auf gutem, dicken Papier gedruckt. Ich glaube, er hat sie auch immer ein wenig meinem Alter vorausgekauft. Ich habe sowieso als Kind immer Bücher gelesen, die mindestens für 5 Jahre über mir gedacht waren. Sonst fand ich sie langweilig. Wie altklug 😉
Seine Sachbücher erklärten die Welt, waren naturwissenschaftlich orientiert. Viele Kinder außer mir hätten vermutlich die Nase gerümpft. Ich fand das toll. Vielleicht war es Herr Kayser, der bei mir die Wissbegier auf das Neue, das Technische, die Naturwissenschaft geweckt hat? Die Entstehung der Erde, was auf der Erde kreucht und fleucht, all das war in solchen bebilderten Büchern erklärt. Herrn Kaysers Mitbringsel waren immer vierfarbig bebildert, hatten aber trotzdem reichlich Text.
Als Herr Kayser uns nicht mehr besuchte – vermutlich weil er gestorben war -, habe ich von meinen Eltern ein Kosmos-Abonnement geschenkt bekommen. Da gab es jeden Monat ein Heft und außerdem jedes Vierteljahr ein Buch, ein Taschenbuch. Die ideale Fortsetzung von Herrn Kaysers Geschenken! Irgendwann habe ich die Reihe „Knaurs Buch der modernen Physik (Chemie, Psychologie, Biologie, Mathematik usw., ich weiß nicht mehr alle Titel) entdeckt.

Vielleicht war das erste Buch oder die ersten beiden Bücher aus der Reihe ja auch noch ein Kaysersches Geschenk? Auf jeden Fall habe ich mir als Schülerin die letzten Bücher dieser Reihe selbst gekauft und vieles von dem, was ich an wissenschaftlichem Wissen mit durch mein Leben getragen habe, kam aus dieser Reihe. Vom Erscheinungsdatum der ältesten Bände her kann es gut sein, dass der erste Band ein Geschenk von Herrn Kayser war.
Ein Kuriosium zu Herrn Kayser ist mir unvergesslich geblieben. Eines Tages, als ich wieder so ein Wunderbuch glücklich in der Hand hielt und durchblätterte, kam ich auf die Entstehung des Menschen. Und da war etwas abgeklebt, nämlich der nackte Oberkörper einer Frau. Das fanden meine Eltern lustig – nicht im hämischen oder gehässigen Sinne – und auch ich als Kind fand das bemerkenswert. Wir waren zwar zu Hause in Bezug auf Nacktheit keine Vorreiter (niemals wären meine Eltern auf die Idee gekommen, mit uns gemeinsam zu baden oder FKK zu befolgen), aber schon damals waren Fotos und Abbildungen nackter Menschen nichts Besonderes.
Worüber ich heute gelegentlich nachdenke: Wer erinnert sich noch an Herrn Kayser? Kinder hatte er nicht, ich glaube auch sonst nicht viele nahe Verwandte. Wenn meine Geschwister und ich eines Tages nicht mehr denken…. dann ist auch die letzte Spur von Herrn Kayer von der Erde verschwunden. Und wer klebt heute schon noch nackte Frauenoberkörper mit weißem Papier ab?