Kommentar vom 17. August 2009: Vollwertler? Rohköstler? Ab in die Psychiatrie!
Mein Kollege stieß mich heute auf einen Artikel im englischen Observer über Orhorexia nervosa. Was ist das? Wikipedia erklärt es so:
Orthorexia nervosa ist eine Essstörung, bei der die Betroffenen ein auffallend ausgeprägtes Verlangen danach haben, sich möglichst „gesund“ zu ernähren. Die Existenz eines solchen Krankheitsbildes wird vielfach bestritten. (Ich ergänze: NOCH bestritten).
Dazu fand ich in Stern online einen Test. Jede Frage, die ich hier mit „Ja“ beantworte, ist ein Zeichen dafür, dass ich in diesem Sinne krank bin. Und die Sterndefinition wird schon konkreter:
Orthorektiker essen Vollwertkost [!], kaufen in Bioläden [!]und meiden Lebensmittel mit künstlichen Zusatzstoffen [!].
Das alles ist gesund – unbestritten. Bedenklich ist aber ihre Besessenheit, mit der sie die Regeln gesunder Ernährung an sich selbst anwenden. Essen und Einkaufen, Rohkost und naturnahe Anbaumethoden werden Menschen mit Orthorexie zum Lebensinhalt. Fast nur um diese Themen kreisen ihre Gedanken. Damit ist die Grenze des Gesunden überschritten, findet Stephen Bratman. Der US-amerikanische Arzt war nach eigenen Angaben selbst so strikt. Er hat der Fixierung auf die richtige Ernährung 1997 einen Namen gegeben: Orthorexie. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet, frei übersetzt, „der richtige Appetit“. Das Wort erinnert an Anorexie, den medizinischen Namen der Magersucht. Die Ernährung wird zur Religion erhoben
Und der „Stern“ weiter:
Orthorektikern geht es nicht um die Menge, sondern um die Qualität dessen, was sie essen. Nicht um abzunehmen, haben sie Schnitzel und Pommes vom Speiseplan gestrichen, sondern um einem Herzinfarkt vorzubeugen [! Anmerkung: Um abzunehmen, ist das Streichen dieser Nahrungsmittel offensichtlich ok. Aber nicht aus Gesundheitsgründen!]. Manche verzichten auf bestimmte Lebensmittel, um chronische Leiden zu lindern. [Anm.: Sachlicher Fehler: Viele lindern durch richtige Ernährung nicht ihre chronischen Leiden wie Allergien, Asthma und Rheuma, sondern heilen sie fast komplett.] Sie meiden vielleicht erst Milchprodukte [!], dann Weizen und schließlich alles, was Spuren von Soja enthält. Immer strenger werden die selbst auferlegten Regeln. Gleichzeitig wird es immer komplizierter und zeitaufwändiger, eine streng makrobiotische Mahlzeit zu planen, ökologisch korrekt einzukaufen oder den Vitamingehalt von Wirsing beim Kochen zu erhalten. Genuss und Freude treten zunehmend in den Hintergrund. Orthorektiker fühlen sich als Sachverständige in Ernährungs- und Warenkunde. Ob Rohkost, Vollwertküche oder veganes Essen [!] – einige erleben ihre Willenskraft in spirituellen Dimensionen. Nach einem Tag mit Sojasprossen und selbstgebackenen Amaranth-Keksen fühlen sie sich körperlich und geistig rein. Medizinische Lehrbücher kennen die Orthorexie nicht.
Noch wird hier betont, dass es nur um die Übertreibung geht. Aber wer bestimmt, was Übertreibung ist? Wer noch nie einen Rohköstler gesehen hat, findet das Essverhalten garantiert übertrieben. Der Stern nennt die gefährdete Gruppe beim Namen: Vollwertler (vor allem die, die wie ich auf Milch verzichten), Rohköstler, Veganer. Die Grenze, „uns“ in den kranken Bereich abzuschieben ist schwammig. Noch ist Orthorexie kein anerkanntes Krankheitsbild, aber wann werden die ersten Rohköstler in die Psychiatrie zwangseingewiesen? Das scheint lächerlich, aber wenn ich diese Dinge zum zweiten Mal lese, bleibt mir schon fast das Lachen im Halse stecken. Dann bringt der Stern noch einen Selbsttest zur Orthorexie:
- Denken Sie mehr als drei Stunden am Tag über gesunde Ernährung nach?
- Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
- Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude am Essen?
- Hat Ihre verbesserte Ernährung Ihre Lebensqualität verringert?
- Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
- Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun die richtigen Lebensmittel zu essen?
- Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung? Schauen Sie auf Menschen herab, die sich nicht gesund ernähren?
- Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrem Ernährungsplan abweichen?
- Sind Sie durch Ihre Ernährungsgewohnheiten gesellschaftlich isoliert?
- Haben Sie das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, und macht es Sie glücklich, wenn Sie Ihrem Ernährungsplan entsprechend essen?
Die Fragen wirken auf den ersten Blick vielleicht eher oberflächlich und banal, welcher Vollwertler oder Rohköstler wird Frage 4, 5, oder 6 mit „Ja“ beantworten? Aber man stelle sich einmal vor, wie jemand anderes uns und unser Essverhalten bewertet. Natürlich wird uns z.B. in Frage 3 kein „Nein“ zugestanden – weil z.B. die Nicht-Vollwertler ja ständig unter dem Komplex leiden, dass wir (wie auch die Rohköstler) ständig „verzichten“. Dasselbe gilt für Frage 4 und 5 – wir verneinen das, aber die Umwelt wird das freudestrahlend mit einem Kopfnicken bejahen. Am besten ist Frage 6. Die Fragestellung ist ja schon suggestiv. Ich verzichte ja auf nichts, ich esse einfach Dinge nicht mehr, die ich früher gegessen habe, weil sie mir nicht mehr schmecken. Aber das wird ein Psychiater nach meiner Zwangseinweisung, der gerade sein Mittagessen in Form einer Portion Currywurst mit einem dicken Eis hinterher eingenommen hat, garantiert anders sehen, um es einmal übertrieben darzustellen.
Gerade Frage 9 ist natürlich völlig richtig. Das gesellschaftliche Leben wird uns schwer gemacht. Darüber klagen viele Vollwertler & Rohköstler – aber bin ich nur geistig gesund, wenn ich mir Pommes und Haribo hinter die Binde kippe?
Es ist alles nicht so lachhaft, wie es auf Anhieb scheint. Ich kann nur sagen: Wehret auch hier den Anfängen!