4. Juni 2012: Ketzerisches zum „Zurück zur Natur“
Bücher über Aussteiger sind Renner. Überall können wir lechzende Stimmen lesen und Überlegungen, wie der- oder diejenige ja am liebsten aussteigen und sich nur noch von den Büschlein am Wegesrand ernähren würde.
Ehrlich – mich nervt das. Für mich sind solche Menschen verquaste Ergebnisse einer Luxuskultur. Was nützt es mir, vor dem PC zu sinnieren, welches Blümelein wohl meine Abendmahlzeit dekorieren und welche Birkenrinde im Leben fern der Natur noch als Speisung dienen kann. Leute, Leute, kommt doch mal auf den Teppich. Außer ganz wenigen Ausnahmen ist heute keiner in der westlichen Welt überhaupt noch zu einer solchen Überlebensform fähig. Ich sage nur: Dauerregen. Unwetter. Ja, das ist alles hochromantisch, wenn wir in unserer gut geheizten Wohnung vorm Plastik-PC träumen. Schon mal den Fuß gebrochen, so ganz alleine im Wald mit der Fichtenrinde zur Linken und einem erschrockenen Häschen zur Rechten, ohne Arzt, ohne Verband weit und breit? Schon mal drei Winternächte mit Frost schnuckelig in einen Lendenschutz unter einer verschneiten Fichte verbracht?
Dann gibt es Bücher von Menschen, die es geschafft haben, wovon die Traumtänzer träumen – sie verbringen Jahrzehnte im Urwald, oder im Schwarzwald, ich weiß es nicht. Fern von der Zivilisation und ernähren sich nur von dem, was die Natur ihnen gibt. Wie schön. Da kommt dann der immer wieder gleiche Aufschrei: Oh wie wunderbar, das möchte ich auch. Mal abgesehen davon, dass ich solche Bücher nicht lese, weil ich das als vertane Lebenszeit empfinde: Wie wäre das, wenn alle Welt jetzt ausstiege? Die Möchtegernaussteiger seufzen: Herrlich wäre das, die Welt wäre voller Frieden. Nee klar. Wenn erst einmal sieben Zehntel der Menschheit verhungert sind, weil ja nichts mehr angebaut wird, und wir alle in die Wildnis streben, wird es friedlicher. Alle Übriggebliebenen teilen dann friedfertig die Bucheckern, die sie auf ihrem Wege finden und tauschen mit leuchtenden Augen ihre Löwenzahnblüten gegen die Birkenrinden ihrer Nachbarn. So wird es sein. Komisch nur, dass es bei den früheren Menschen, die so leben mussten, keineswegs so friedlich zuging.
Auch ist es schön, wenn einige Menschen einfach aus der Zivilisation aussteigen und am Amazonas die Natur genießen und mit einfachsten Lebensmitteln und Lebensbedingungen zufrieden sind. Ein Urlaub von der Seele, derweil wir Dummen ja hier rumhängen und arbeiten. Arbeiten ist ja eh verpönt, das riecht nach Sklaventum, und wer gerne arbeitet, ist sicher zivilisationskrank. Also da steht dieser Aussteiger nun am Amazonas und plötzlich beißt ihn trotz aller Friedfertigkeit ein Krokodil ins Bein. Was nun? Hat der Aussteiger noch ein Handy dabei, um schnellstens den Rettungsdienst zu alarmieren, der ihn per Hubschrauber ins nächste Krankenhaus fliegt? Oder schleppt sich der angebissene Aussteiger zur nächsten menschlichen Station, von der ihn dann der Hubschrauber abholt? Übrigens: Das ganze medizinische Netzwerk inklusive Hubschrauber haben die Dummen bezahlt, die sich derweil ja dem Sklaventum verpflichtet hatten.
Ich möchte nicht aussteigen. Ich genieße es, morgens warm duschen zu können. Ich genieße es, dass meine Wohnung beheizt ist und sich keine Eisblumen an den Fenstern bilden, wie das noch meine Mutter aus ihrer Jugend erzählt hat. Ich finde es toll, dass ich bei Bedarf einen Notartzdienst anrufen oder einen Zahnarzt aufsuchen kann. Ich finde das Internet so rein von der Wissensübertragung her dem Trommeln durchaus überlegen. Ich will nicht zurück, ich will nicht in die Natur. Was nicht heißt, dass ich alles, was es heute gibt, gut finde. Ein vorsichtigerer Umgang mit der Natur wäre mir auch lieber.
Es gibt sicher Ausnahmegestalten, die sich wirklich in die Natur zurückziehen können, ohne letztendlich doch wieder auf die Errungenschaften der Zivilisation zurückzugreifen. Das bezweifle ich nicht. Aber Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher sind keine Ausnahmegestalten und ich wünschte mir, sie würden etwas realistischer und etwas weniger auf meinem Geldbeutel ruhend träumen. Mich ärgert das nämlich, wenn riesige Summen dafür ausgegeben, weil sich wieder mal ein Hobbybergsteiger übernommen hat und für viel Geld gerettet wird, ein Abenteuerurlauber aus dem See gefischt, und letztendlich müssen wir anderen das bezahlen.
Diese ganzen Wildnisliebhaber sind übersättigte Wohlstandsmenschen, die vor lauter Es-geht-ihnen-zu-gut sich das Gute wegwünschen, was unsere Zeit zu bieten hat. Mein Leben hat genug Abenteuer, ich brauche nicht künstliche, mir selbst auferlegte Entbehrungen, weil ich sonst vor lauter Luxuslangeweile nicht mehr weiß, was ich tun soll. Denn eine solche Einstellung empfinde ich auch als Hohn gegenüber den vielen Menschen, denen es nicht so gut geht wie uns hier. Die sich von Baumrinden und derlei Dingen ernähren MÜSSEN.