15. Juli 2013: Geschichte Nr. 4, Geschichte Nr. 15 und Geschichte Nr. 48
Es ist Nacht. Irgendwo knarrt eine Holzbohle. Das Mondlicht scheint durch das gardinenlose Fenster in einen Raum. In der Mitte des Zimmers steht ein großer Tisch mit vier Holzstühlen. Mehr kann man nicht erkennen. In der rechten Ecke ist ein kleines weißes Licht zu sehen. Ab und zu schiebt sich eine kleine Wolke über den Mond, je weiter er über den Horizont kommt, umso besser kann man erkennen, was auf dem Tisch liegt: Bestecke, vielleicht aus Silber, die im Mondlicht funkeln. Eine Glasvase, deren Rundung ebenfalls das Mondlicht reflektiert. Irgendwo im Haus schlägt eine Uhr: Es ist 2 Uhr nachts. Wenige Minuten später klingelt es im Raum, drringgg-drringg, viermal geht das so. Dann springt eine Maschine an, das ehemals kleine weiße Licht ist nun rot und beginnt zu flackern. Nach einer Weile macht es klick und klock… die Stimme einer Frau ist zu hören “Ja, hallo, ich bin’s, tut mir Leid, dass ich so spät anrufe, aber…. ich muss einfach mit jemandem reden” Pause. “Eine blöde Idee, jetzt anzurufen, aber ich wollte …”. Pause. Ein unsicheres “Ja, dann bis bald, und… äh, tschüss.”. Man kann hören, wie der Hörer aufgelegt wird. Das kleine Licht leuchtet nun stetig grün. Wenige Stunden später durchflutet das erste Grau den Raum, Vogelstimmen verkünden den neuen Morgen. Ein Radio plärrt los, irgendwo knallt eine Tür. Wasser fließt, ein Fenster wird geschlossen, Lichter gehen an.
Geschichte Nr. 4
Gudrun kommt als erste in den Raum. Sie ist noch sehr verschlafen. Ihr Mann Herbert folgt ihr auf dem Fuße. Er hat es eilig, denn heute geht es auf Dienstreise. Noch schnell den Teebeutel in der Thermoskanne übergießen, ab in die Tasche und los. Beim Rausgehen sieht er den Anrufbeantworter grün leuchten. „Gudrun…“ ruft er und nickt Richtung AB. Dann hört man seine Schritte auf dem Kies vor dem Haus, Autotürklappen, einen anspringenden Motor und das Knirschen als er vom Grundstück fährt. Gudrun lauscht in den frischen Morgen. Langsam fällt die Müdigkeit von ihr ab. Nun fällt auch ihr Blick auf den Anrufbeantworter. Es war schon nach Mitternacht, als sie gestern den Tisch eingedeckt hatte, für das Mittagessen mit ihren 3 Freundinnen am heutigen 9. August.
Der Tag, an dem sie sich vor Jahren bei einem Französisch Sommerintensiv-Volkshochschulkurs kennengelernt hatten. Seit dem hatten sie versucht sich jedes Jahr reihrum zu treffen. Diesmal war sie dran. Ein stilvolles französische Essen sollte die Freundinnen begeistern! Wer hatte bloß so spät noch angerufen? Karin, Inge oder Sonja? Bestimmt war bei einer etwas dazwischen gekommen. Sie drückte auf den Abhörknopf, nichtsahnend, welche Wendung der 9. August nehmen würde…Es war Karin, die älteste der 4er Runde. Irgendwie klang sie bedrückt. So kannte Gudrun sie gar nicht, die lebensfrohe, immer taffe Karin. In der Anzeige des AB stand, das der Anruf gegen 2 Uhr eingegangen sei. Komisch, Karin brauchte ihren Schlaf. Was trieb sie zu nachtschlafender Zeit an den Hörer? Sie wählte Karins Nummer und wartete, das sie abnahm. Nichts geschah. Dies war ebenso ungewöhnlich, denn Karin war verläßlich bis 10 Uhr im Haus, bis ihre pflegebedürftige Mutter für 6 Stunden in die Altentagesstätte gefahren wurde. Sie drückte die Wahlwiederholung, wieder nichts. Sie wählte die Handynummer. Das Handy war aus. Langsam begann sie sich Sorgen zu machen. War die alte Dame ins Krankenhaus gekommen und Karin deswegen nach Mitternacht noch wach? Karin wohnte im Stadtteil Engeloch, gute 5 km von ihr entfernt. Sollte sie sich ins Auto setzen und vorbeifahren? Dabei wollte sie doch in aller Ruhe das Essen vorbereiten, das Fougasse aux olives backen, dazu Tapenade und Zwiebelkonfitüre reichen. Letztere hatte sie in Vorfreude des Treffens schon vor einigen Tagen zubereitet. Gefolgt vom Tajine de pommes de terre aux citrons confits et aux olives und nach langen Gesprächen gekrönt von der Tarte aux noix et au miel de lavande. Alle Gerichte stammten aus ihrem Lieblingskochbuch „Meine Sonnenküche“. Allein der Klang der Speisen versetzte sie in Urlaubslaune. Wie hatte sie den Einkauf gestern auf dem Markt zelebriert…Noch einmal drückte sie die Wahlwiederholung. Es klingelte und klingelte. Plötzlich wurde der Hörer abgehoben nur um eine Sekunde später mit einem Knall auf dem Apparat zu landen. Gudrun zuckte zusammen. Was war bloß los? War Karin der Hörer aus der Hand gerutscht? War die alte Dame ausversehend an den Apparat gekommen? Doch nein, das konnte nicht sein, das Telefon stand im 1. Stock und Karins Mutter bewohnte 2 Zimmer im Erdgeschoss-Anbau. Treppen steigen konnte sie nicht mehr. Als eher pragmatischer Typ warf sie sich eine Jacke über, griff ihre Handtasche und schwang sich in Eile aufs Rad, um die 5 km zu Karin zu radeln. In Gedanken überprüfte sie ihren Zeitplan. Wenn Sie in einer Stunde wieder da wäre, könnte sie noch alles schaffen. Plötzlich klingelte das Handy, welches sich in der Handtasche im Fahrradkorb vor ihr befand. Bis sie angehalten hatte und abgestiegen war, hatte das Klingeln aufgehört. Es war nicht Karins Nummer. Sie fuhr weiter und erreichte in neuer Bestzeit Karins Haus, das am Ende einer Sackgasse stand. Schon als sie durch den Vorgarten ging, beschlich sie leichte Gänsehaut, denn die Rolläden waren im Erdgeschoss Anbau noch geschlossen. Sie klingelte und klopfte, aber Karin war nicht zu sehen oder zu hören. Die Wohnungseingangstür war nicht verschlossen. Gudrun zögerte. Lieber schaute sie erst einmal hinter dem Haus, aber auch dort war niemand zu sehen. Sie holte tief Luft, als sie wieder vor der Tür stand. Dann drückte sie den Türgriff nach unten und trat ein.
Geschichte Nr. 15
Herrmann schlurft in die Küche und fängt an den Frühstückstisch zu decken. Seine Frau Johanna folgt ihm –etwas munterer- nach, bereitet das Frischkorngericht für beide zu und setzt sich ebenfalls an den Tisch. Herrmann schaut etwas abwesend in seine Müslischale.
Johanna fragt „Schatz, alles ok?“
Er antwortet zuerst nicht, dann „Hm?“
Sie fragt erneut „Alles gut?“
Herrmann erwidert: „Ich habe nicht so gut geschlafen, ich bin wohl irgendwann auch mal aufgewacht“.
Johanna: „Umso besser, dass wir heute frei haben! Und, sicher hat dich das Telefon heute Nacht geweckt.“
Er fragt „wer hat denn mitten in der Nacht anrufen?“
Johanna „das war meine Schwester, aber sie sagte nicht, was sie wollte, ich werde sie gleich zurückrufen“.
Beide beenden ihr Frühstück und räumen gemeinsam den Tisch ab. Für den freien Tag hat das Paar einen Ausflug an den See geplant und das Wetter spielte sogar mit. Decken, Stühle, Kissen, der Picknickkorb, alles wird ins Auto geladen. Der geplante Rückruf bei Johannas Schwester Sarah allerdings geht vergessen…. Am frühen Abend kehren Johanna und Herrmann voll schöner Eindrücke nach Hause zurück. Das Auto wird entladen und die beiden stellen sich auf einen ruhigen Ausklang des Tages ein. Plötzlich fällt Johanna siedendheiß ein, sie hat Sarah gar nicht angerufen! Sie läuft zum Telefon und wählt ihre Nummer, auch nach dem zehnten Läuten nimmt niemand ab. Sie versucht die Mobilnummer, ebenfalls kein Erfolg. Da kennt sie nicht von ihrer Schwester, Johanna wird unruhig. Hätte sie den Anruf doch gleich heute Morgen erledigt!
Sie wartet eine halbe Stunde und versucht wieder unter beiden Nummern, Sarah zu erreichen. Wieder erfolglos. Johanna bekommt es langsam mit der Angst zu tun und wählt die Mobilnummer ihres Schwagers. Ebenfalls keine Antwort. Sie ruft ihren Mann und erzählt ihm davon.
Herrmann versucht sie zu beruhigen: „vielleicht sind die beiden einfach mal ohne Handy aus dem Haus gegangen, das Wetter ist so schön, eventuell sind sie nur spazieren?“ Doch Johanna bleibt besorgt und besteht darauf, bei ihrer Schwester nach dem rechten zu sehen. Sie steigen ins Auto und fahren die wenigen Kilometer, keiner der beiden spricht ein Wort. Dort angekommen finden sie beide Autos der Verwandten in der Einfahrt, es brennt Licht. Johanna stürzt an die Eingangstür und klingelt Sturm.
Nach kurzer Zeit öffnet ihre Schwester und schaut Johanna etwas erstaunt an „was macht ihr denn hier?“
Johanna „was ist los, warum geht keiner von euch ans Telefon, was war gestern Nacht?“ Die Fragen sprudeln vor Aufregung aus ihr heraus.
Sarah fängt an zu lachen und sagt „du erinnerst dich doch, dass wir letzte Woche über diese Küchenmaschine gesprochen haben?“
Johanna „diesen Vita…dings?“
„Genau, dieses Dings! Es wurde gestern geliefert und ich habe die halbe Nacht mit Ausprobieren verbracht und total die Zeit vergessen! Deswegen habe ich auch zu so einer Un-Zeit bei euch angerufen, ich bin einfach so begeistert…“
Johanna fragt „und warum ist bei euch heute keiner ans Telefon gegangen?
Ihre Schwester erklärt „naja, das Eis und der Aufstrich von gestern waren so lecker, dass wir uns heute gleich wieder in die Küche gestellt haben und während das Gerät lief, haben wir die Telefone wohl nicht gehört.“
Geschichte Nr. 48
Jason wusste dass es ein Fehler gewesen war, seine Nase in Angelegenheiten zu stecken, die ihn nichts angingen. Elaines Anruf mitten in der Nacht, ihre Stimme hatte es ihm bewusst gemacht. Trotzdem hatte er nicht widerstehen können. War sogar so weit gegangen, seine Kollegin Elaine wider besseren Wissens mit reinzuziehen. Sicher verspürte sie Angst und wie Jason zugeben musste, war diese mehr als berechtigt. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Dr. Severin herausfand, dass wichtige Unterlagen fehlten. Jene Unterlagen, die das seit Jahren im Entstehen begriffene Projekt dokumentierten, an dem dieser zusammen mit anderen Wissenschaftlern arbeitete, das jedoch Jason und Elaine ausgeschlossen hatte. Und das war bisher bei noch keinem Projekt der Fall gewesen. Genau das hatte Jason, der zu Anfang noch beleidigt, dann skeptisch war, schließlich neugierig gemacht. Was war es, das man vor ihm, aber auch vor seiner Kollegin Elaine geheim hielt? Diese Frage hatte ihn solange gequält, bis er endlich den Entschluss fasste, es herausfinden zu wollen. Als er sich dazu entschlossen hatte, schienen der Preis und das Risiko keine Rolle zu spielen. Doch er hatte den Preis unterschätzt. Umso klarer wurde ihm das, nachdem er nun wusste, woran Dr. Severin mit seinen Kollegen gearbeitet hatte. Und das Projekt war längst noch nicht fertig gestellt.
Jason wusste, er hätte Elaine warnen müssen, hätte sie da niemals mit reinziehen dürfen. Doch jetzt war es zu spät. Er konnte nichts mehr machen, nicht einmal mehr sprechen.
Sie hatten ihm die Stimme geraubt und ihn zur Bewegungsunfähigkeit verdammt. So zurückgelassen in seiner Wohnung blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Auf ein Wunder oder darauf zu hoffen, dass sich alles nur um einen schrecklichen Alptraum handelte. Jason blickte zum Telefon hinüber. Elaine würde die nächste sein, denn es gab keine Möglichkeit, sie zu warnen. Sie waren sicher schon bei ihr oder würden bald bei ihr sein. Jason schloss die Augen. Es tut mir so leid, Elaine. So leid…