11. August 2012: Vorurteile und Erfahrungen
Letztlich wehrte sich eine vegane Vollwertlerin gegen die Vorverurteilung von Veganern als aggressiv u.ä. Im Rahmen dieser Diskussion ergab sich die Frage, wo die Erfahrungen aufhören und die Vorurteile anfangen.
Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass die Political Correctness es uns quasi verbieten möchte, aufgrund von Erfahrungen wichtige Vor-Urteile zu ziehen und anzuwenden. Wobei, das möchte ich gleich vorausschicken, meine Hypothese ist: Ja, wir dürfen durchaus Erfahrungen in Vor-Beurteilungen verwandeln, um uns das Leben zu vereinfachen, wir sollten uns aber offen halten, dass wir nicht Vor-Beurteilungen in Vor-Urteile mit moralischer Wertung verwandeln und dass wir auch offen dafür bleiben, dass Vor-Beurteilungen für eine Mehrheit zutreffen, nicht aber für alle Individuen.
Die Natur ist ja immer ein guter Lehrer. Am meisten Erfahrungen habe ich da mit den Katzen auf der Terrasse. Sie haben durch Erfahrung und Erziehung gelernt, dass sie besser vor großen, bewegten Objekten schleunigst davonlaufen. Das ist für sie lebenswichtig, weil sie sonst von größeren Tieren erlegt, von böswilligen Tierquälern gequält werden. Das heißt, wenn ich an die Terrassentüre gehe und sie öffne, „fliegen“ die Katzen quer durch den Garten und sind weg. In meinem Fall ist das natürlich völlig überflüssig, aber woher sollen die Katzen wissen, dass ich das eine von hundert großen Tieren / Objekten bin, das ihnen nichts Böses will? Sie beobachten mich ständig und gerne – ich bin eines ihrer Lieblingsstudienobjekte. Einige von ihnen laufen nach einer Zeit auch nicht mehr ganz so weit weg, wenn ich hinauskomme. Die Mutterkatze bleibt sogar stehen, sie kennt mich eben schon viele Jahre. Haben diese Katzen jetzt ein Vorurteil gegen große bewegte Tiere?
Heute ist es nicht mehr so üblich, aber in meiner Jugendzeit trug man noch ein halbes Jahr schwarze Kleidung, wenn ein naher Angehöriger starb. Als ich mit 17-18 Jahren nun meine Vorliebe für Schwarz entdeckte und mich ausschließlich in Schwarz kleidete, einfach weil mir das gefiel, wurde ich von einer Lehrerin vorsichtig gefragt, ob ich einen Trauerfall in der Familie gehabt hätte. Ich fand das damals „total doof, ey“, aber heute weiß ich: In der Erfahrung dieser Frau trugen Menschen eben nur aus diesem Grund schwarz, und nicht aus Spaß an der Farbe (wobei streng genommen, Schwarz nicht als Farbe gibt, aber das sei jetzt hier einmal egal). Ihre Frage war berechtigt, ihre Schlussfolgerung logisch. Es war Erfahrung, eine Vor-Beurteilung, kein Vorurteil.
Wenn Vor-Beurteilungen auf Erfahrungen beruhen, sind sie wertvoll, egal ob dies meine eigenen Erfahrungen oder die Erfahrungen glaubwürdiger Menschen sind. Schlimm werden sie erst dannn, wenn sie von der Sachlichkeit in die moralische Verurteilung abdriften. Dies aber will die Political Correctness nicht wahrhaben, die am liebsten gar keine Mehrheitsbeurteilungen mehr zulässt.
Ein anderes Beispiel stammt ebenfalls aus meinem eigenen Leben: Ich bin für eine Frau, vor allem meiner Generation, überdurchschnittlich technisch interessiert. Ich habe mich für Computer begeistert, als selbst die Männer meiner Generation noch voller Misstrauen waren. Es ist eine statistisch erwiesene Tatsache, dass Frauen da weniger Interesse und damit logischerweise auch weniger Fähigkeiten haben als Männer. So weit, so gut. Ich erwarte also auch nicht, dass jetzt jeder PC-Händler mir an der Stirn ablesen kann, dass ich was davon verstehe. Er darf also erst einmal davon ausgehen, dass ich zu der Generation gehöre, die mit Gruseln eine Maus in die Hand nimmt. Bis dahin gehen wir noch auf einem Weg. Das ist eine Vor-Beurteilung und Erfahrung, die ich niemandem übel nehme. Geärgert habe ich mich nur vor Jahren über folgenden Fall: Ich ging in einen kleinen Laden, habe dort einen PC in Auftrag gegeben mit genauen Spezifikationen, habe einiges durchdiskutiert. Der PC wurde geliefert, ein Teil von Windows funktionierte überhaupt nicht. Der Techniker kam, schaute sich das an und fragte, ob ich vielleicht die Maus falsch bedient habe, seine Schwiegermutter hätte das auch nicht im Griff. Da bin ich fast ausgerastet, denn dort war eine Vor-Beurteilung trotz gegenteiliger Erfahrung aus dem Gespräch in ein blindes Vor-Urteil umgeschlagen. Ein Blick von mir reichte übrigens, den jungen Mann zum Schweigen zu bringen, räusper. Ach ja – muss ich noch erwähnen, dass das Motherboard einen Defekt hatte und dass der neue PC nach Austausch perfekt funktionierte? Mittlerweile habe ich einen anderen PC-Händler, der damit leben kann, dass ich „anders“ bin 😉
Insoweit nehme ich mir anhand meiner Erfahrungen (!) nach wie vor heraus, dass ich erst einmal vorsichtig schaue, wenn sich jemand als Veganer „outet“. Ich weiß, mit welchen Argumenten ich rechnen muss, ohne dass ich das in eine moralische Schublade gieße. Meine Erfahrungen in die Richtung sind in der Mehrzahl „dogmatisch“ – und um so mehr freue ich mich, wenn ich in YouTube oder hier im Blog die anderen sehe. Und so schließt sich der Kreis 🙂
Im Übrigen bitte ich die Veganer, die nicht dem „Durchschnittsbild“ entsprechen, nicht böse zu sein, dass ich sie als Beispiel herauspicke. Das liegt einfach daran, dass der Anlass für diesen Artikel eben die Diskussion mit einer Veganerin war. Außerdem denke ich, dass ich mit den Beispielen aus meinem eigenen Leben klar genug machen konnte, dass der Fokus meiner Ausführungen NICHT auf den Veganern oder dem Veganismus liegt, sondern einzig daran, was den Unterschied zwischen Erfahrung, Urteilen und Vorurteilen ausmacht 🙂