26. Nov. 2016: Buchstabe H
H wie Henkersmahlzeit. Viele Hs gingen mir durch den Kopf, auch Ha Ha Said The Clown, war es Manfred Mann? War es der Song, wo man irgendwo im englischen Text im Hintergrund (ebenfalls mit H) „Walter, mach die Tür zu!“ hören konnte?
Wie auch immer, die Henkersmahlzeit. Eine gruselige Einrichtung. Ich frage mich, ob ich ein Essen noch genießen könnte, wenn ich wüsste, dass ich anschließend hingerichtet würde. Wie viele Menschen haben in den Zeiten der Henkersmahlzeit sich etwas gewünscht, wie viele haben verzichtet, weil ihnen der Magen bereits im Voraus zugeschnürt war? Heute gibt es das Wort nur noch im übertragenen Sinne, ha, ha, sehr lustig. Aber man muss sich da an die Ursprünge erinnern.
Ich bin der Überzeugung, dass es in früheren Zeiten noch viel mehr – gewollte oder ungewollte – Justizirrtümer gab als heute. Wie viele also wurden hingerichtet, bekamen diese Mahlzeit angeboten und wussten, es war reine Missgunst, oder Neid, Macht und was es da so alles gibt, die sie in diesen Zustand brachten? Wächst der Appetit auf die Henkersmahlzeit, je ungerechter das Urteil ist oder umgekehrt? Hat vielleicht, wer aus Habgier seinen Vater umgebracht hat, mehr Appetit, sich noch einmal richtig etwas zu gönnen, als derjenige, dem das Beil nur deshalb droht, weil er dem mächtigen Stadtkämmerer im Wege steht? Eine Statistik, die dies untersucht, wird nicht mehr erstellt werden können. Ob die Einführung der Todesstrafe sich lohnen würde, nur um diese Statistik zu erstellen? Es müsste dann natürlich gleichzeitig sichergestellt werden, dass eine Menge Fehlurteile dabei sind, sonst wird das Bild schief.
Wie üppig durfte denn die Henkersmahlzeit sein? Vielleicht war es die einzige Gelegenheit, für einen aus Not zum Räuber gewordenen Burschen, einmal ein richtiges Essen, eine sättigende Mahlzeit zu erhalten. Wie war das mit den Hexenprüfungen, wo Frauen ins Wasser geworfen wurden und wenn sie ertranken, unschuldig waren? Eine fette Mahlzeit hätte da zur Unschuld verhelfen können.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich angesichts eines bevorstehenden Todes durch anderer Menschen Hand gerne noch etwas essen würde. Wobei ich in der Regel gerne esse. Aber so ist das mit Situationen, in denen man sich nicht wirklich befindet – ganz genau kann keiner sagen, wie er reagieren wird. So weiß ich z.B. nicht, ob ich im Falle einer Krebserkrankung auf die schulmedizinischen Maßnahmen verzichten würde, obwohl ich theoretisch dagegen bin. Wie soll ich wissen, was ich denke, falls der Fall eintritt, den sich niemand wünscht? Wer einmal vor dem Abgrund des eigenen Ichs gestanden hat und mit Erschütterung gesehen, dass er Dinge tut, von denen er geschworen hätte, dass sie ihm nicht passieren – derjenige wird vorsichtig mit solch generellen Aussagen zu Grenzsituationen.
Gesetzt den Fall, ich würde mir eine Henkersmahlzeit wünschen wollen, was würde ich denn bestellen? Das ist eine Überlegung wert. Da es meiner Galle egal wäre, ob ich ihr Unzumutbares zumute, weil das Essen sie gar nicht mehr erreicht, bin ich völlig frei. Ganz gewiss würde ich mir nichts von dem bestellen, was ich auch vor der Ernährungsumstellung nicht gerne aß oder gar nicht mochte: keine Shrimps, Muscheln und ähnliches, keine Sahnetorten, kein fettiges Gyros mit Pommes, kein Burger. Wie wäre es aber mit einem gebratenen Hühnchen? Würde ich mir eine Vollwert-Pizza bestellen mit einem veganen Belag oder eine normale aus Weißmehl mit schön zerlaufenem Käse darüber? Würde ich mir einen Marmorkuchen nach der Wilkesmannschen Formel zum Backen ohne Ei und Fett wünschen oder einen Marmorkuchen, so wie ihn meine Mutter gebacken hat? Ich verfolge diesen Gedanken nie bis zum Ende, nicht wegen der Grausamkeit, sondern weil ich mich ein wenig vor der Antwort fürchte. Denn würde ich die normale Pizza bestellen, hieße das doch, dass mir mein eigenes vollwertiges Essen nicht wirklich bis in die letzten Winkel meines Geschmacksempfindens mundet. Oder wäre die Wahl einer normalen Pizza einfach eine Geste an vergangene Zeiten, die ich heraufbeschwören möchte?
Wobei mir jetzt einfällt, dass der Wunsch nach einem Marmorkuchen nach der Wilkesmannschen Formel einen 1001-Nacht-Effekt haben könnte. Bei jedem Probestück bemängele ich etwas, nein, bitte, noch einmal versuchen, da fehlen 10 g Apfelmark. Und beim nächsten Mal ist es zu viel Stützcreme. Dann ist der Schokoladenüberzug zu weich, nicht süß genug usw. Das führe ich so lange fort, bis die Henker es leid sind, ihr Kapuzencape an den Nagel hängen und zum Henkergeneralstreik mit Frühberentung als Ziel aufrufen. Dann werden alle Todeskandidaten entlassen, sie tragen Fahnen mit der Aufschrift „Marmorkuchen nach vorne“, „Hoch lebe die Wilkesmannsche Formel“ oder „Nie wieder ohne Stützcreme!“. Ich würde dann noch viele Jahre leben und der Tod käme friedlich. Ich läge in einem großen Bett, in einem weißen, weiten Baumwollnachthemd. An den vier Ecken des Bettgestells stehen große Kerzen, die den Raum gelblich ausleuchten. Meine blassen Hände liegen gefaltet auf der Bettdecke, meine Haare sind lang, weiß und zu einem lockeren Zopf gebunden, der sich vom Kopf über das Kopfkissen bis zur Bettdecke schlängelt. Da kommt der Tod mit leisen Schritten, ich verspüre keinen Wunsch mehr nach einem letzten Marmorkuchen. In die Geschichte auf dem Weg zur Zivilisation (Aufgabe der Todesstrafe) gehe ich ein als die Uteanne d’Arcuchens.