Kommentar vom 25. Dezember 2010: Eine neue Welt
In einer der letzten Telefonstunden fragte mich eine Anruferin: „Wie ersetze ich Eier am besten im Kuchen?“ Ich antwortete spontan: „Einfach die Eier weglassen.“ Meine Gesprächspartnerin war etwas verblüfft. Dann konnte ich ihr noch ein paar Dinge aufzählen, die gemeinhin als Ei-Ersatz gelten: 1 EL Kichererbsenmehl und 2 EL Wasser pro Ei, 1 EL Apfelmus pro Ei, Butteranteil deutlich erhöhen, mehr Backpulver nehmen. Ich selbst backe Kuchen eher nur noch mit Hefe. Die Frage aber brachte mich zum Grübeln.
Ich denke, da steckt etwas Grundsätzliches in dieser Frage. Mir scheint, die Frage ist einfach falsch, auch wenn ich sie mir selbst häufig gestellt habe und gelegentlich noch stelle.. Es gibt auf der Welt sagen wir einmal 100.000 Kuchen und Torten. Davon backen wir in unserem Leben, wenn es hochkommt, 200 Sorten. Der Durchschnittsmensch wohl eher nur 10-20. Warum aber sind wir so verbohrt darauf eingefahren, genau die Kuchen zu backen, in die Eier reinkommen? Warum probieren wir nicht einfach andere Kuchen, die ohne Eier auskommen, bis wir welche gefunden haben, die unsere alten Lieblingskuchen im Liebesgrad locker ersetzen können?
Es ist fehlender Mut, es ist Bequemlichkeit. Anstatt uns die Welt der 100.000 Kuchen anzuschauen, beharren wir darauf, unsere 10 Sorten immer wieder zu backen. Und selbst wenn wir die Tür zur Vollwertwelt aufstoßen, schleifen wir die alten Kuchen mit. Neues ist fremd, vor Fremdem scheuen wir zurück.
Das ist etwas ganz anderes als der Verzicht, von dem so häufig gesprochen wird. Wenn ich auf etwas verzichte, fehlt mir etwas. Wenn ich aber solange suche, bis ich etwas finde, das selbst bei aller Andersartigkeit ebenbürtig ist, lege ich etwas beiseite, statt darauf verzichten. Das ist jetzt ein sehr abstrakter Satz, daher möchte ich das an einem Beispiel verdeutlichen:
Ein Mensch, nennen wir ihn ÖtziPlus, wohnte bisher in einem Wald mit vielen hohen Bäumen, seine Schlafstätte hatte er in Erdlöchern am Fuß der Bäume eingerichtet. Nun dringt kein Licht in diesen Wald, und ÖtziPlus, der weiß, dass er Licht zum Leben braucht, entschließt sich, diesen ungesunden Platz zu verlassen und an eine Stätte zu gehen, wo er mehr Licht bekommt. Nach einer längeren Wanderung gelangt er an einen herrlichen weißen Sandstrand, das Meer rauscht Tag und Nacht, die Sonne scheint milde und regelmäßig. ÖtziPlus ist tief beeindruckt, er merkt, wie das viele Licht seiner Haut, seinem Geist, seiner ganzen Person so gut tut. Er beschließt in dieser schönen hellen Welt zu bleiben. Zwei Palmen stehen an diesem Strand. ÖtziPlus geht sofort dorthin, buddelt sich ein Loch unterhalb einer Palme, um dort seine Schlafstätte einzurichten. Doch er schläft schlecht. Das Loch bleibt nicht unberührt wie in diem dunklen Wald, tagsüber weht die Brise vom Meer das Loch wieder zu, jeden Abend muss ÖtziPlus sich sein Loch neu buddeln. Nach ein paar Tagen gibt er auf.
Er geht zu einem nahe gelegenen Felsen, fängt dort an zu graben, vielleicht kann er dort sein Schlaferdloch einrichten? Doch schon 10 cm unter dem Sand beginnt der Felsen, auch hier kann er nicht schlafen. Er weiß, wie gut es ihm an diesem Sandstrand geht, doch er jammert immer noch seinem Erdloch hinterher.
Warum, so fragen wir uns, warum nimmt er nicht eine leichte Decke und schläft auf dem Sand? Warum legt er sich nicht an den Felsen, der von der Sonne am Tag gewärmt, ihm über Nacht die Wärme zurückgibt? Warum hängt er nicht eine Hängematte zwischen die Palmen, um im sanften Mondlicht, das er früher nie gesehen hat, im leisen Nachtwind Ruhe zu finden?
Nun, das kann er nicht. Er ist so voll mit seinen Bildern von Erdlöchern zum Schlafen, dass er nicht sieht, dass seine neue Welt ihm so viele andere Möglichkeiten bietet. Er sucht einen Erdloch-Ersatz statt eine Erdloch-Alternative zu entdecken.
Jeder, der sich mit Vollwerternährung beschäftigt, nickt mit dem Kopf, wenn ich sage: Mit der Einführung der Vollwert ins Essensleben lernen wir so viele essbare Dinge kennen, die wir vorher gar nicht kannten! Die Palette des Essbaren ist also deutlich größer. Warum aber sind wir dann so versessen darauf, immer wieder auf die alte Minipalette zurückzugreifen? Warum versuchen wir verzweifelt, den ollen Marmorkuchen nun auf Vollwert zu trimmen, statt vielleicht auf unsere Suche nach Neuem einen Kuchen zu entdecken, der mit Marmorkuchen nichts gemein hat – außer dass er uns genauso gut, ja, vermutlich noch besser schmeckt?
Mit dem Blick nach vorne können wir neue Geschmackserlebnisse gewinnen und unser Leben bereichern. Der Blick stets nach hinten in die alte Essenswelt blockiert.